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Wozu Sex?

Mit Sex alleine geht es auch

Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2007

Das Leben könnte einfacher sein, hielten wir es wie der Süßwasserpolyp Hydra: Aus dem Körper des Elterntieres wächst eine Knospe, die schnürt sich ab und wird ein eigener kleiner Polyp. Hydra vermehrt sich ungeschlechtlich. Oder die Schlupfwespe: Ihr Nachwuchs entwickelt sich aus einer unbefruchteten Keimzelle, die Schlupfwespe praktiziert Parthenogenese, Jungfernzeugung: Es gibt nur ein Geschlecht, und die Nachkommen jedes Individuums sind seine Klone. Bei Säugetieren gibt es keine Parthenogenese, sie frönen bizarren Formen der geschlechtlichen Fortpflanzung. Über die ist noch immer nicht alles gesagt, nicht einmal alles bekannt.

Nach der evolutionären Maxime, dass es dem Individuum stets darum geht, seine Gene möglichst zahlreich in die nächste Generation zu transferieren, dürfte es Sex gar nicht geben. Die sexuell gezeugten Nachkommen tragen schließlich nur zur Hälfte die eigenen Gene. Ist Sex ein unerklärbarer Luxus, das Produkt einer zufälligen Mutation?

Der Journalist Christian Göldenboog hat mit führenden Experten der Evolutionsforschung über diese und verwandte Fragen gesprochen und aus den Gesprächen und Hintergrundmaterialien ein informatives und amüsantes Buch gemacht ("Wozu Sex?". Von der Evolution der zwei Geschlechter. Deutsche Verlagsanstalt, München 2006. 239 S., geb., 19,90 [Euro]).

Klone, so lässt er den Biologen John Maynard Smith erklären, haben einen großen Nachteil: Ein Virus, der das Immunsystem eines Individuums überwindet, kann im schlimmsten Fall gleich die ganze Population vernichten. Die Kombination der Gene zweier Individuen in den komplexen Prozessen von Mitose und Meiose sorgt dagegen für einzigartige Individuen. Ist ein Immunsystem überlistet, kann der Virus am Nachbarn scheitern. Sex ist Vielfalt, und Vielfalt ist gefragt: in der Verteidigung gegen mikroskopisch kleine Invasoren wie bei der Anpassung an vielfältige Umwelten. Außerdem beantwortet diese Theorie die Frage nach dem Nutzen der Männer: "Bezüglich des künftigen Fortbestandes meines eigenen Geschlechts innerhalb der menschlichen Art fühle ich mich jetzt wesentlich wohler. Schließlich kann man den Leuten erzählen, wir Männer würden für die Gesundheit gebraucht", zitiert Göldenboog den Evolutionsforscher Hamilton.

In die Welt kam die ganze Sache vermutlich mit einer Bakteriensex genannten Prozedur, in der Bakterien Teile ihres Erbguts austauschen, ohne dass man sie deshalb schon als Männchen und Weibchen bezeichnen könnte.

Göldenboog erklärt, wieso die Eizelle so viel größer ist als die Samenzelle, und rückt mit Amotz Zahavis Handicap-Prinzip scheinbar unsinnigen Statussymbolen wie dem Hirschgeweih und den Pfauenfedern zu Leibe. Gerade wer sich einen hinderlichen Schmuck zulegen kann, so die Grundidee, zeigt damit, was für ein kräftiger Kerl er ist.

Die Gene, die beim Sex neu kombiniert werden, sind keine austauschbaren Bauklötze. Imprinting, Prägung, heißt das Phänomen, das die Forscher umtreibt. Die Gene bekommen eine Art molekulares Etikett mit, das bestimmt, ob das väterliche oder das mütterliche Exemplar aktiviert wird. Bei Mäusen sind die mütterlichen Chromosomen häufig in Hirnbereichen aktiv, die mit Wahrnehmen und bewusstem Denken verbunden werden, die väterlichen im Hypothalamus, wo es um Sex, Essen und Aggression geht. "Wenn wir Menschen den Mäusen gleichen, laufen wir mit dem Denken unserer Mutter und den Launen unseres Vaters herum", sagt Matt Ridley in Göldenboogs Buch.


Bei genauerem Hinsehen erweist sich vor allem der Prozess, der im Schulunterricht einst recht harmlos als Reduktionsteilung daherkam und in dem aus dem vollständigen Chromosomensatz einer Zelle zwei Zellen mit je einem halben Satz werden, als unglaublich komplex. Das ist, als suchten zwei blinde Männer ihre Socken, die irrtümlich in eine einzige Tüte geraten sind, zitiert der Autor den Zellbiologen Kim Nasmyth, der eine überraschend einfache Lösung des Problems bereithält.

Bei all der Verwirrung um längst verstanden geglaubte Vorgänge verwundert es kaum, dass selbst die lange als "Lamarckismus" geschmähte Vererbung erworbener Eigenschaft wieder diskutiert wird: ein nicht wirklich verstandener Vererbungsmechanismus oberhalb der Gene. "Und dies wäre in der Tat ein Vererbungssystem, das kurzfristig auf Umweltveränderungen reagieren könnte und das wesentlich flexibler als das Darwinsche System wäre", meint Wolf Reik im Gespräch mit dem Autor. Aber: "Möglicherweise steckt hinter alldem etwas völlig anderes."

Klar ist hingegen, dass Gene nicht einfach Gene für etwas sind, sondern dass ihre Wirkung von den Wirkungen der anderen Gene und von der Umwelt abhängt. Ein Gen kann viele Merkmale beeinflussen, ebenso können viele Gene an einem Merkmal beteiligt sein. Am Ende geht es immer um Vielfalt: "In der Natur existieren Mechanismen, die trotz starker Gegenkräfte genetische Vielfalt erzeugen und erhalten." Kein Organismus ist in einer sich wandelnden Welt perfekt genug, um als Klonvorlage für alle zu dienen. Denn dann verfaulen eben alle Kartoffeln, wie zur Zeit der irischen Hungersnot, dann muss der Fleischproduzent die mangelnde Widerstandskraft der überall gleichen, aber nirgendwo wirklich angepassten Tiere mit Medikamenten ausgleichen. Und dabei täte Sex es auch.


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